Vortrag von Hildi Thalmann (Chang She) gehalten am Thementag der Schweizerischen Buddhistischen Union im Mai 2016.
Klarheit des Geistes
„Der höchste Weg ist gar nicht schwer,
nur abhold wählerischer Wahl.
Dort wo man weder hasst noch liebt,
ist Klarheit, offen, wolkenlos.“
Sengcan in Vertrauen in den Geist, übersetzt Willhelm Gundert
Diese Klarheit des Geistes versuchen wir in der Meditation zu erfahren. Das ist das höchste Ziel in Chan. Das Stille Gewahrsein ist das Gewahrsein dieser Klarheit – die wie leerer und weit offener Raum ist. Wir nennen diese Klarheit auch Soheit oder Buddha-Natur, die wir alle sind.
Im 12. Jh. sagte Hongzhi: “Mit vollkommener und durchdringender Klarheit sieht man, dass da kein einzig Ding [zu finden] ist!“ und „Diese Geist-Natur ist rein und tief, wie ruhiges, klares Wasser. Wenn sie von Wellen des Hasses oder der Liebe bewegt wird, entstehen die Wellen der Geistestrübungen. Dann verbreitet sie Glanz und bringt reagierendes Tätig-Sein hervor.“
Diese unsere eigene Natur hat also den Aspekt des Unbewegt-Seins, der Ruhe, des nicht Bedingt-Seins und sie hat den Aspekt, ihren Glanz auszubreiten und so die bedingte Welt entstehen zu lassen und sie zu durchdringen. Mit klarem Gewahrsein, als ob man in vollkommener Stille sitzen würde, übernimmt man Tätigkeiten und Verantwortung. Und man unterstützt andere Lebewesen.
Klarheit in unserem Wesen
Klarheit hat in meiner Sichtweise auch viel zu tun mit Wahrhaftigkeit – damit, dass ich mich immer wieder frage: „Was sind meine Beweggründe, warum reagierte ich so empfindlich, warum werde ich traurig? Warum handle ich so? In der Meditation, im nach Innen-Schauen, können wir dies erkennen lernen. Und dieses Sich-Kennen-Lernen ist der erste Schritt, sich zu ändern und in seinem Wesen klarer und gefestigter zu werden.
Die Klarheit unseres innersten Potentials durchdringt unser Wesen. Das bedeutet, eine klare
Haltung einzunehmen, zu dem zu stehen, was mir das wichtigste ist. Auch dazu muss ich mir zunächst klar werden über mich selbst. Denn oft ist
uns nicht bewusst, was wir im Innersten sind, und der Ursprung unserer Probleme ist uns nicht klar. Er ist wie versteckt unter gewohnheits-mässigem Denken und Handeln. Erst in der Meditation wird
es uns möglich, diese Muster zu durchschauen. Wir können zu unserem inneren Kern vorstossen und erkennen, wenn dieser überdeckt wird von Emotionen, Meinungen, Gewohnheiten. Aus der Verbindung mit
unserem inneren Kern können wir eine klare Haltung einnehmen.
Diese klare Haltung und die Klarheit im Wesen führen auch dazu, sich nicht ablenken zu lassen von den vielen interessanten oder verlockenden Abwechslungen, die sich uns anbieten. Es bedeutet zu lernen, weniger verführbar zu sein.
Klarheit im Wesen hat auch mit aufrecht dastehen zu tun. Das bedeutet auch in seinen Handlungen aufrichtig und klar sein. Klar zu dem zu stehen, was man ist (oder nicht ist) und entsprechend zu handeln – auch wenn das bedeutet, nicht mit jedem Trend mit zu schwimmen, unpopuläre Ansichten zu vertreten oder geschätzten Personen nicht in allen Punkten rechtgeben zu können. Wie schwer kann es uns doch fallen, nicht um der Harmonie willen darauf zu verzichten, schwierige Themen anzusprechen oder nicht über subtile Signale hinwegzusehen. So betrifft die Klarheit in unserem Wesen auch unsere Beziehungen zu den andern Menschen. Unsere Klarheit kann für die andern erfahrbar werden. Sie kann vielleicht zunächst als schmerzhaft empfunden werden, ist aber letztendlich heilsam, denn sie klärt auch unsere Beziehungen.
Klarheit in unserem Wesen können wir entwickeln. Unsere Praxis in der Meditation und die Praxis im Alltag sind das Übungsfeld für die Klarheit. Das heisst, wir begegnen immer wieder dem, das der Klärung bedarf. Wir müssen immer wieder die eigenen Geistestrübungen ansehen und sie so mit der Zeit zum Abklingen bringen. Je länger wir üben, desto stärker zeigt sich diese Klarheit in uns. Dazu steht schon im Palikanon, dass zum Überwinden der Angst die Klarheit des Wesens zu entwickeln ist. Buddha sagte, dass er so lange die Angst aushielt, bis sein Wesen lauter, also klar wurde: „… als mein Wesen lauter wurde, nahm mein Wohlgefallen am Waldleben zu.“ (Bhayabherava Sutta, Furcht und Angst M. 4. (I,4)
Klarheit im Alltag
Damit meine ich die vielen Übungsmöglichkeiten, denen wir im Alltag begegnen. Ordentlichkeit und Reinlichkeit sind keine Schlagworte unserer Zeit – sie rufen (jedenfalls bei nicht mehr ganz jungen Personen) vielleicht sogar unangenehme Erinnerungen an Gebote und Verbote in der Kinder-und Jugendzeit hervor. Es gilt heute eher das Lob des kreativen Chaos der Selbstentwicklung. Und doch – auch Chaos bedarf immer wieder der Klärung. Auch Selbst-Entwicklung braucht das Ein-Mitten in uns selbst und in die Umgebung. Die Klarheit eines aufgeräumten Schreibtisches oder die Reinlichkeit unserer Meditationsecke zu Hause können die Klarheit in unserem Wesen und in unserem Geiste unterstützen. Ist es nicht so, dass wir uns wohler und vielleicht auch klarer fühlen nach einer Reinigung – sei es des Körpers oder der Wohnung (nicht nur, wenn wir nach dem Fensterputz die Landschaft draussen klarer sehen)? Wir können Klarheit im täglichen Umgang mit unseren Aufgaben und in der Begegnung mit andern Menschen entwickeln. Reinlichkeit Sorgfalt, Achtsamkeit und Ordentlichkeit als äussere Klarheit wird dort zum Abbild der Klarheit in unserem Wesen und in unserem Geist. Diese Klarheit hilft uns das Leben einfacher und liebevoller zu machen.
Zum Abschluss der letzte Teil des Gedichtes von Hongzhi:
„Mit klarem Gewahrsein übernimmt man die Verantwortung,
den andern Wesen beizustehen,
ruhig, als ob man in vollkommener Stille sitzen würde.“
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